„Ja, wir sollten gegenreden, aber wir sollten nicht unbedingt gegenreden in der Kommentarspalte unter dem Kommentar. Weil das Problem ist einfach, wenn wir Counterspeech als das verstehen, was es ist, nämlich ein Ansatz, der Gegenargumente im öffentlichen Diskurs so laut wie möglich hörbar machen will, dann reicht es ja nicht, einzelnen Kommentar in einer Kommentarspalte zu beantworten, sondern dann müssen wir die Content-Creation gehen.”
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Shownotes
- Netzhorizonte
- Workbook „Wir haben ja jetzt einen sicheren Hafen“
- Meldestellen:
- Meldestelle Hessen gegen Hetze (Staatsanwaltschaft des ZIT – bundesweit tätig)
- Meldestelle Respect (Trusted Flagger nach Digital Services Act)
- Beratungsstellen:
- Digitale geschlechtsspezifische Gewalt (Frauenberatungsstellen)
- Cybermobbing (Jugendliche)
- rechtsextreme Gewalt:
- Rechtsextreme Bedrohungslage vor Ort
- Opferhilfe nach einer rechtsextremen Gewalttat
- digitale Gewalt-Beratung für alle Gewalt-Phänomene (empfehlen wir aber vor allem bei großen, orchestrierten Kampagnen und Angriffen z.B. gg Personen des öffentlichen Lebens)
- Shitstorm-Beratung für zivilgesellschaftliche Organisationen aus Berlin
- Sammlung von weiteren Beratungs- und Meldestellen
Takeaways
„….. unterschätzt einfach eure Community nicht. Egal ob die online oder offline unterwegs ist, hört der Community zu, nehmt Kritik an, verarbeitet diese. und spielt ihr wieder nach draußen, weil genau eure Community ist euer Wert.”
Wer den Begriff „Hass im Netz“ verwendet, greift oft zu kurz. Dahinter verbergen sich grundlegend verschiedene Phänomene mit unterschiedlichen Tätergruppen, Dynamiken und Auswirkungen. Lio und Mart von Netzhorizonte unterscheiden vier Hauptformen digitalisierter Gewalt: rechte Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt, Mobbing und eskalierende Konflikte. Diese Differenzierung ist entscheidend, denn nur mit dem richtigen Verständnis können wirksame Schutzkonzepte entwickelt werden.
Rechte Gewalt im digitalen Raum äußert sich durch Hate Speech, Dangerous Speech, Fear Speech und Doxing. Die Täter sind meist Nazis und Rechtsradikale, oft organisiert in Trollnetzwerken. Geschlechtsspezifische Gewalt umfasst dagegen bildbasierte Gewalt wie Deepfake-Pornos und Cyberstalking, ausgeübt von (Ex-)Partnern. Mobbing ist grundsätzlich eine Gruppendynamik, die heute fast immer digital begleitet wird. Bei eskalierenden Konflikten sorgt der Online-Enthemmungseffekt für schnellere und heftigere Eskalationen.
Wichtig zu verstehen: Die Worte, die im Digitalen erscheinen, entstehen im Analogen – in den Köpfen realer Menschen. Ebenso real sind die Auswirkungen auf die Betroffenen. „Es gibt kein Real Life ohne Digitalisierung mehr“, betont Lio. Der Begriff „digitalisierte Gewalt“ soll genau diese Verschränkung von analoger und digitaler Welt ausdrücken.
Zivilgesellschaftliche Organisationen besonders bedroht
Das Gefahrenpotential für zivilgesellschaftliche Organisationen übersteigt das von Unternehmen bei weitem. Während Unternehmen sich hauptsächlich mit Kommunikationsfehlern und Imageschäden auseinandersetzen müssen, sind NGOs und Vereine mit gezielten Angriffen von radikalen und teils kriminellen Gruppen konfrontiert.
Die Organisationen, mit denen Lio und Mart im Projekt „Empower Communities“ zusammenarbeiteten, umfassten Umweltschutzorganisationen, Hilfs- und Katastrophenschutzorganisationen, migrantische Selbstorganisationen, Integrationsberatungen und religiöse Medien, die sich für queere Rechte engagieren. Sie alle standen im Fadenkreuz sehr unterschiedlicher Gegner: von Neonazi-Gruppen über türkische Nationalisten bis hin zur Schmuggler-Mafia, die gegen Tierschutz-NGOs vorging.
Die Bedrohungen beschränken sich nicht auf den digitalen Raum. „Wir hatten Situationen, da lag dann plötzlich ein Wolfskopf bei den Leuten vor der Türe“, berichtet Lio. Neonazis verschicken Morddrohungen, Mitarbeitende werden persönlich angegriffen. Bei kleineren Organisationen sind Bürostandorte und manchmal sogar Wohnadressen der Mitarbeitenden lokal bekannt.
Strukturelle Herausforderungen und Chancen
Ein weiteres Problem: Zivilgesellschaftliche Organisationen verfügen oft über tausende kleine Kanäle, die von Ehrenamtlichen betreut werden – ohne ausreichendes Vorwissen und Schutzkonzepte. Die Hauptorganisationen wissen manchmal nicht einmal genau, wer diese Accounts führt.
Die strukturellen Bedingungen verschärfen die Situation zusätzlich. Community-Management ist überall unterbewertet, doch in zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt hinzu, dass sie oft von Fördergeldern abhängig sind und über ihre Stellenvergabe nicht frei entscheiden können. „Die haben meistens gar keine Stellen in der Öffentlichkeitsarbeit oder nur eine kleine Teilzeitstelle, die dann irgendwie alles machen soll“, erklärt Lio.
Doch es gibt auch Chancen: Sozialarbeiter:innen bringen wertvolles Wissen über den Umgang mit Menschen, Communities und Konflikten mit – Wissen, das in Marketing oder Journalismus oft fehlt. Die vielen kleinen Kanäle können sich gegenseitig Reichweite verschaffen. Und Ehrenamtliche sind oft zu Zeiten aktiv, wenn Hauptamtliche Feierabend haben.
Das Workbook: „Wir haben ja jetzt einen sicheren Hafen“
Nach 26 Monaten Projektarbeit und einem weiteren Jahr für die Publikation haben Lio, Mart und ihr Team ihre Erfahrungen in einem siebenteiligen Workbook zusammengefasst. Es richtet sich an verschiedene Zielgruppen innerhalb zivilgesellschaftlicher Organisationen: von Führungskräften über Social-Media-Teams bis zu Ehrenamtskoordinatoren.
Die Teile des Workbooks umfassen:
- Intro: Projektvorstellung für Multiplikatoren
- Teil 1-3: Grundlagen für die gesamte Organisation und Leitungskräfte
- Teil 4: Content-Creation für Social-Media-Teams
- Teil 5: Moderation mit konkreten Tipps (276 Seiten)
- Teil 6: Hilfreiche Materialien und Vorlagen
- Teil 7: Glossar mit Fachbegriffen
Besonders wichtig war den Autoren, dass die Inhalte auf den Erfahrungen Betroffener basieren und Konzepte aus marginalisierten Communities wie Awareness-Konzepte und Community Accountability einbeziehen.
Handlungsempfehlungen bei digitalisierter Gewalt
Was können Community-Manager:innen tun, wenn sie mit digitalisierter Gewalt konfrontiert werden? Mart rät zunächst: „Tief durchatmen und ruhig bleiben.“ Wichtig sei, auf sich selbst zu hören und für die eigene Sicherheit zu sorgen.
Dann sollte geprüft werden, ob der Kommentar justiziabel ist oder gegen die Community-Richtlinien der Plattform bzw. die eigene Netiquette verstößt. Das Melden bei den Plattformen selbst funktioniert allerdings oft nicht zuverlässig, da sich diese ihrer Verantwortung entziehen.
Besser ist es, sich an spezialisierte Meldestellen zu wenden. Lio empfiehlt vor allem zwei: Hessen gegen Hetze (angedockt an eine Staatsanwaltschaft, die bundesweit tätig ist) und die Meldestelle RESPECT (erster „trusted flagger“ in Deutschland). Als „trusted flagger“ kann RESPECT unter dem Digital Services Act (DSA) der EU die Entfernung von Inhalten innerhalb von 24-48 Stunden durchsetzen.
Daneben gibt es spezialisierte Beratungsstellen für verschiedene Betroffenengruppen: Frauenberatungsstellen bei geschlechtsspezifischer Gewalt, YouPort bei Cybermobbing, Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) bei rechter Gewalt sowie Hate Aid für Personen des öffentlichen Lebens, die mit großen Shitstorms konfrontiert sind.
Selbstfürsorge: Ein unterschätzter Aspekt
Ein zentraler Punkt in der Arbeit von Lio und Mart ist die Sensibilisierung für Selbstfürsorge. Gerade Menschen ohne professionellen Hintergrund verstehen oft nicht, dass die Angriffe nicht persönlich gemeint sind und die Täter sie als Person gar nicht kennen.
Sie müssen erst eine professionelle Haltung entwickeln: „Tiger, nicht Mäuschen. Ich muss erstmal die Haltung entwickeln: Ich bin ein Tiger. Ich darf mich wehren. Das ist mein Kanal.“
Ein wichtiger Aspekt ist die Klärung, welcher „Raum“ geschaffen werden soll: Ein Infostand, ein Wohnzimmer oder ein Politsalon? Je nach Art des Raumes können unterschiedliche Regeln gelten. Nicht jeder Kanal muss ein Ort für politische Debatten sein, auch wenn das oft als Anspruch von demokratieorientierten Organisationen gesehen wird.
Praktische Empfehlungen zur Selbstfürsorge umfassen:
- Sich erlauben, Pause zu machen
- Klare Trennung zwischen privatem und beruflichem Account
- „Feel-good-Accounts“ für die Erholung nutzen
- Nicht mit dem Handy ins Bett gehen
Für Organisationen ist es wichtig, Awareness-Personen zu benennen, die Ehrenamtliche unterstützen können, und Vertretungsregelungen zu schaffen.
Counterspeech: Mehr als nur antworten
Ein häufiges Dilemma im Community-Management: Soll man auf Hasskommentare antworten und ihnen damit Reichweite verschaffen oder sie unwidersprochen stehen lassen?
Lio und Mart, die selbst aus dem Gegenrede-Aktivismus kommen, haben hier eine differenzierte Position entwickelt. Zunächst klären sie über den eigentlichen Ursprung des Begriffs „Counterspeech“ auf: Er stammt aus der US-amerikanischen Rechtsdebatte um „Free Speech versus Hate Speech“ und ist eigentlich ein marktliberales, kapitalistisches Konzept. Die Idee: Im „Marketplace of Ideas“ soll der Staat nicht eingreifen, sondern die Wahrheit durch die Auseinandersetzung von Rede und Gegenrede entstehen.
Doch gibt es wenig Belege dafür, dass Counterspeech tatsächlich zu Wahrheitsfindung führt – besonders in Zeiten von Algorithmen und sozialen Medien. Lios Empfehlung: „Macht Gegenrede so laut wie nur irgendwie möglich. Gegen Narrative. Benutzt Ansätze wie Narrative Change. Reframing. Setzt eigene Themen. Agenda Setting. Schafft Reichweiten für Geschichten von Vielfalt. Postet, was das Zeug hält.“
Statt sich in einzelnen Kommentarspalten abzuarbeiten, wo Trolle oft genau das Ziel haben, vom eigentlichen Arbeiten abzuhalten, sollte die Zeit in eigene Content-Creation investiert werden.
Fazit: Füng Tipps von Lio und Mart
- Nutzt das Workbook „Wir haben ja jetzt einen sicheren Hafen“ und sucht euch die Teile heraus, die für eure Situation passen.
- Verzweifelt nicht daran, alles umsetzen zu müssen. Greift euch ein bis zwei Sachen heraus, arbeitet sie ab, und nach einem halben Jahr nehmt ihr wieder ein bis zwei neue Aspekte in Angriff.
- Unterschätzt eure Community nicht. Hört ihr zu, nehmt Kritik an und spielt sie wieder nach draußen – eure Community ist euer Wert.
- Macht überhaupt Community-Management! Egal wie gut oder schlecht, aber betrachtet Social Media nicht nur als Contentmaschine.
- Unterstützt betroffene Personen und konzentriert eure Kraft nicht auf die Täter: „Hört auf, eure Kraft in Täter zu investieren. Hört auf, eure Kraft in endlose Diskussionen mit Tätern zu investieren. Haltet den Menschen, die gerade angegriffen werden und die Hilfe brauchen, bietet denen Hilfe an.“
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Danke an
- Björn Woll für die Ansagen
- Thorsten Ising für den Schnitt und Unterstützung bei der Produktion